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Foto Betül

Betül

Türkei

 

Mein Name ist Betül und ich bin in Lich in Oberhessen geboren und aufgewachsen. Meine Eltern kommen aus der Türkei. 

 

Wie kam Deine Familie nach Deutschland?

Mein Großvater kam 1964 als Gastarbeiter nach Deutschland. Er hatte in der Türkei eine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur gemacht und arbeitete bei einer Firma in Bad Nauheim. 1979 holte er meine Großmutter und meinen Vater nach. Mein Vater war damals 9 Jahre alt. 

Meine Mutter kam im Alter von 19 Jahren nach Deutschland, nachdem sie meinen Vater geheiratet hatte. Sie hatte in der Türkei eine Ausbildung als Bankkauffrau gemacht, die hier allerdings nicht anerkannt wurde.

 

Wie bist Du aufgewachsen?

Ich hatte eine schöne Kindheit. Nach dem Kindergarten und der Grundschule habe ich die Realschule besucht und anschließend mein Fachabitur in der Fachrichtung Bautechnik gemacht. Studiert habe ich Bauingenieurwesen an der TH Mittelhessen. 

Meine Eltern sind sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. So war mein Freundeskreis immer sehr gemischt und ich hatte auch viele nicht-türkische Freundinnen. 

Durch ihre Ausbildung konnte mir meine Mutter in der Schule immer bei Mathe helfen. In anderen Fächern hat mir eher mein Vater geholfen, wenn es nötig war, aufgrund der Sprache. Heute sind meine Eltern sehr stolz darauf, dass ihre Tochter studiert hat.

 

Wie bist Du mit der Sprache zurechtgekommen?

Ich konnte schon gut Deutsch, als ich in den Kindergarten kam, aber ich war ein eher ruhiges und schüchternes Kind. Ich habe mich zum Beispiel in der Schule eher selten gemeldet, oft auch aus Angst, etwas falsch zu sagen und dann ausgelacht zu werden. 

Heute spreche ich beide Sprachen gleichwertig, aber meine Herzenssprache ist Türkisch. 

 

Wie hast Du als Kind die Türkei erlebt?

Die Türkei war für mich das Ferienland: Urlaub, Sonne, Strand, Familie – es war immer schön dort. Und ich habe immer gespürt, dass es die Heimat meiner Familie ist.

 

Und heute?

Ich empfinde die Türkei als meine Heimat. Wenn ich am Flughafen ankomme, ist es, als käme ich nach Hause. So geht es mir auch mit Deutschland, aber es fühlt sich anders an. Hier lebe und arbeite ich, hier habe ich meine Wohnung, hier sind meine Freunde und natürlich bin ich auch hier zu Hause. Aber die Türkei spricht mein Herz an. 

 

Wo gehörst Du hin?

Zu beiden Ländern. Ich lebe, wie so viele meiner Generation, zwischen beiden und in beiden Ländern und Kulturen. Wir gehören nirgendwo wirklich dazu. Hier sind wir „die Türken“, dort sind wir „die Deutschtürken“. Gleichzeitig haben wir zwei Länder, zu denen wir gehören. 

Derzeit überlege ich, neben der türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ich bin sehr froh, dass das jetzt möglich ist, denn die türkische hätte ich nicht aufgegeben. Sonst hätte ich mir die Chance genommen, einmal dauerhaft in der Türkei zu leben. 

 

Heute trägst Du ein Kopftuch. Welche Erfahrungen machst Du damit?

Das Kopftuch trage ich seit ich 22 Jahre alt bin. Es war schon immer mein Wunsch, ein Kopftuch zu tragen, und nach dem Studium hat es sich einfach richtig angefühlt. 

Den Unterschied in der Wahrnehmung durch andere konnte ich deutlich feststellen. Ich werde oft mit Vorurteilen konfrontiert. Man hält mich für ungebildet und der deutschen Sprache nicht mächtig. Wenn sich dann herausstellt, dass ich perfekt Deutsch spreche, werden die Leute meist netter und zugänglicher. Ich versuche, das nicht persönlich zu nehmen und die Vorurteile der Menschen durch meine Offenheit abzubauen. 

 

Spielt das Kopftuch bei der Arbeit eine Rolle?

Manchmal bemerke ich schon erstaunte und irritierte Blicke, wenn ich auf eine Baustelle oder zu einer Besprechung komme. Meistens legt sich das aber sehr schnell, wenn es ums Fachliche geht. In der „Männerwelt“ auf dem Bau muss ich mich oft doppelt behaupten – als Frau sowieso und mit Kopftuch erst recht. Aber das gelingt meistens sehr gut und ich werde schnell akzeptiert. Weder meinen Beruf noch meine derzeitige Tätigkeit möchte ich missen. Mit beidem fühle ich mich sehr wohl. 

 

Hast Du noch andere Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht?

Ich finde, dass die Feindlichkeit und der Hass gegenüber allem „Fremden“ in letzter Zeit zugenommen hat, vor allem in und durch die sozialen Medien. Irgendwie scheint es in Mode gekommen zu sein, sich negativ über die Türkei und den Islam zu äußern, ohne den Einzelfall zu betrachten. Ich meine, in jeder Kultur, Nation und Religion gibt es Menschen, die sich nicht benehmen können und andere ausgrenzen. Das sollte so nicht sein und hat überhaupt nichts mit Religion zu tun. 

 

Wie siehst Du Deutschland heute?

Ich fühle mich hier sehr wohl und möchte hier bleiben. Gleichzeitig erfüllen mich die jüngsten Entwicklungen mit Trauer und Sorge. Meine große Angst ist, dass Vorurteile massiver werden und immer mehr Menschen diskriminiert werden. Viele von uns kennen das Gefühl, allein aufgrund der gemeinsamen Religion für jeden terroristischen Angriff verantwortlich gemacht zu werden. 

Ich spreche gerne über Politik und Religion, aber ich will darüber nicht streiten. Jede und Jeder kann seine eigene Meinung dazu haben, aber er sollte sie auch anderen zugestehen. Alle sollen so leben können, wie sie möchten und so möchte ich auch behandelt werden. 

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Betül als Kind mit ihrem Vater