Fahne Türkei
Necdet

Necdet

Türkei

 

Mein Name ist Necdet. Ich bin in Plochingen in der Nähe von Stuttgart geboren und dort aufgewachsen. Meine Familie stammt aus der Türkei. 

 

Wie kam Deine Familie denn nach Deutschland?

Mein Vater arbeitete in der Türkei in einer Weberei. Als sich herumsprach, dass in Europa Arbeitskräfte gesucht werden, bewarb er sich um eine Stelle und wurde 1964 als Textilarbeiter nach Deutschland geschickt. Acht Monate später holte er seine Familie nach. 

 

Und Dein Vater lebte seither in Deutschland?

Zu Beginn muss alles unfassbar schwer gewesen sein. Wohnung, Sprache, eine fremde Kultur. Noch Jahrzehnte später ließen diese Anfangsgeschichten alle dieser „Gastarbeitergeneration“ nicht los. Das Heimweh muss enorm gewesen sein. Aber man hat natürlich die deutlich bessere Perspektive in Deutschland erkannt und hat das alles ausgehalten und fleißig gearbeitet. 

Doch dann geschah in meiner Familie doch etwas sehr Seltenes. Ein begeisterter Lottospieler aus der Nachbarschaft hatte meinen Vater dazu überredet auch mal Lotto zu spielen. Er hielt zwar nicht viel von Glücksspielen, hat es aber dann doch mal versucht.

Unglaublich, aber war, Samstagabend hatte er einen kleinen Gewinn gemacht. Eine Summe, mit der man sich fast einen neuen VW Käfer hätte kaufen können. Damals der Traum aller Arbeiter.

Nach intensiven Überlegungen haben meine Eltern beschlossen, doch wieder zurückzukehren und es in der Heimat mit einer kleinen Selbständigkeit zu probieren. Das Startkapital war ja nun da. Der Sprung in die Selbständigkeit wurde dann doch deutlich schwieriger als gedacht. Das Geld schmolz weg wie Eis in der Sonne. Mein Vater brach das Vorhaben ab und beschloss wieder nach Deutschland zu gehen. Der Kontakt zu seinem alten Arbeitgeber hat da sehr geholfen. Die Familie kam später nach und alle waren wieder hier. Diesmal über die gesamte Zeit eines Arbeitslebens. 

Als sie in Rente waren, pendelten meine Eltern dann oft zwischen der Türkei und Deutschland. Später wurde ihnen das zu anstrengend und sie blieben für den Rest ihres Lebens in der Türkei. 

 

Warum sind Deine Eltern überhaupt nach Deutschland gekommen?

Ich höre meinen Vater heute noch sagen: „Um uns herum gab es fast nur arme Menschen. Es waren praktisch alle davon betroffen.“ Die Berichte aus Deutschland waren so vielversprechend, dass mein Vater beschloss, es ebenfalls in Deutschland zu versuchen. Er hat immer betont, dass es gar nicht so einfach war nach Deutschland zu gehen, wie oft erzählt wurde. Es gab sehr umfangreiche und strenge medizinische Untersuchungen. Man musste kerngesund sein. 

 

Wie hast Du Deine Kindheit in Erinnerung?

Als ich mit 5 Jahren in den Kindergarten kommen sollte, verstand ich kein Wort Deutsch. Zu Hause wurde nur türkisch gesprochen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich im Kindergarten geweint und mich in eine Ecke verkrochen habe. Die einzige Lösung, die den zuständigen Erzieherinnen einfiel, war es, mich für ein Jahr zurückzustellen. Wie zu erwarten war es ein Jahr später bezüglich der Sprache nicht anders, aber da stand die Schulpflicht vor der Tür und ich kam in den Kindergarten. Natürlich habe ich schnell Deutsch gelernt und konnte ein Jahr später ohne Probleme eingeschult werden. 

In den ersten beiden Grundschuljahren war ich das einzige ausländische Kind. Später kamen weitere türkische Kinder nach und ich konnte sogar beim Übersetzen helfen. 

 

Übersetzen war überhaupt ein wichtiges Stichwort in deiner Kindheit und Jugend.

Ja, sowohl in der Familie, als auch in der Nachbarschaft und unter Bekannten. Gefühlt war ich der Dolmetscher für alle.

Briefe übersetzen, Formulare ausfüllen, Hilfe bei Arztbesuchen und Behördengängen. Auch Elterngespräche in der Schule. So etwas kann sehr anstrengend werden und hat mich auch zeitlich oft überfordert. 

 

Wie siehst Du diese Aufgabe heute?

Wenn ich zurückblicke, sehe ich natürlich oft absurde Situationen. Zum Beispiel wenn ein elfjähriger Junge ein Eltern-Lehrer-Gespräch eines Mitschülers übersetzen soll.

Ich gebe zu, dass ich einige Aussagen der Eltern etwas diplomatischer übersetzt habe, als sie tatsächlich gefallen sind. Es hat aber am Ende niemandem geschadet. Mir auch nicht, man lernt sehr viel fürs Leben. 

 

Wie war Dein Bildungsweg und welche Unterstützung hattest Du?

Die Leistungen in der Grundschule waren mittelprächtig. Man hat es einfach deutlich schwerer, wenn die Eltern bei Hausaufgaben und ähnlichem nicht wirklich eingreifen können. 

Als es um weiterführende Schulen ab der 5. Klasse ging, habe ich zum ersten Mal gemerkt, was es eigentlich heißt Ausländer zu sein. Kein Kind ausländischer Herkunft ist auf die Realschule gekommen, geschweige denn aufs Gymnasium. Ich habe gesehen, dass Mitschüler und Mitschülerinnen mit gleichen Noten eine ganz andere Empfehlung bekommen haben. Einfach deshalb, weil die Eltern ganz andere Gespräche mit den Lehrern führen konnten. Also hieß es bei mir automatisch „Hauptschule“. Meinen Eltern war ja die Schule nicht egal, ganz im Gegenteil, aber sie waren mit dem Schulsystem überfordert. 

 

Heute hast Du einen Beruf, der mehr als den Hauptschulabschluss voraussetzt. Wie kam das?

Berufe, die auf meiner Wunschliste standen, waren mit dem Hauptschulabschluss selbstverständlich nicht möglich. 

Ich habe unermüdlich nach Möglichkeiten gesucht, um auch studieren zu dürfen. Der Klassenlehrer war damit überfordert, den Fall hatte er noch nicht. Alle wurden Handwerker. Die Aussage war „Du brauchst ja Abitur, und das geht jetzt eben nicht mehr“. Falsche Schule besucht. 

Ich wollte das nicht glauben und fragte eine andere Lehrerin. Sie zeichnete mir einen Plan, auf welchem Bildungsweg ich mein Ziel erreichen könnte und bestärkte mich darin sehr, diesen Weg zu gehen. 

Dank Ihr besuchte ich zunächst eine Wirtschaftsschule und später das Wirtschaftsgymnasium um eben Abitur machen zu können. Und immer war der Druck hoch, dass ich gute Leistungen erbringen muss um meinen Traum zu verwirklichen. 

Nach dem Abitur habe ich dann eine Ausbildung zum Chemielaboranten gemacht und danach in Frankfurt Pharmazie studiert. 

Heute arbeite ich als Filialleiter in einer Apotheke in Maintal. 

 

Hast Du in Deutschland auch Rassismus erlebt?

Ja, natürlich. Bei der Wohnungssuche habe ich das auch schon öfter erlebt. Ausgrenzung ist das, nichts anderes. Im Studium habe ich das oft erlebt. Wenn ich zum Beispiel Dinge kritisiert habe, wurde ich schon mehrmals gefragt, ob es denn in der Türkei besser wäre. Das würde ich allerdings heute anders diskutieren. 

 

Was bedeutet die Türkei heute für Dich?

Meine Heimat ist eindeutig Deutschland. Hier bin ich aufgewachsen, hier findet mein Leben statt und hier engagiere ich mich. 

Mein Gefühl zur Türkei hat sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Als Kind und Jugendlicher war es das Land meiner Eltern und somit natürlich auch mein Land. Wir verbrachten unseren Urlaub dort, meine Eltern bauten ein Haus und das Thema dorthin „zurückzukehren“ war zu Hause immer präsent. 

Ich fühle mich der Türkei nach wie vor sehr eng verbunden und verfolge die Entwicklungen aufmerksam. Mit meiner Familie besuche ich die Türkei immer wieder gerne und wir verbringen immer eine schöne Zeit dort.

 

Und Deutschland?

Ich muss sagen, dass mich der zunehmende fremdenfeindliche Nationalismus  in Deutschland sehr nachdenklich stimmt - und meine Bindung zur Türkei stärkt. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass das auf jeden Fall das Land wäre, in das ich mit meiner Familie auswandern würde, wenn es hier eines Tages unerträglich werden sollte und man aufgrund seiner Herkunft nicht mehr erwünscht ist.

Mein Vater hat nie ein schlechtes Wort über Deutschland verloren und hätte nichts darauf kommen lassen. Trotzdem hat er von jeder Aufenthaltsgenehmigung zur nächsten überlegt, ob er hierbleiben oder zurückgehen möchte. Im Grunde haben wir sehr lange auf „gepackten Koffern“ gelebt. 

Als ich rund um mein Abitur entschied, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, war die logische Konsequenz, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Das führte zu den ersten großen Diskussionen mit meinen Eltern, die nicht verstehen konnten und wohl auch nicht akzeptieren wollten, dass ich meine türkische Staatsbürgerschaft dafür aufgegeben habe. Es gab zwar eine Möglichkeit sich wieder in der Türkei einbürgern zu lassen, aber darin sah ich keine Notwendigkeit. 

Für mich war es keine Entscheidung, nicht zurückzugehen, weil es kein „Zurück“ gewesen wäre. Ich bin ja hier geboren und war immer hier.

 

Du bist mit einer deutschen Frau verheiratet. Was sagten Deine Eltern dazu?

Das war der zweite große Diskussionspunkt zwischen uns. Meine Eltern waren zunächst entsetzt und ich denke, sie konnten die Entscheidung nicht nachvollziehen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass man in einer Familie mit zwei Kulturen und zwei Religionen zusammenleben kann. Dabei ging es nicht um die Person meiner Frau. Es ging wohl vielmehr darum, den Sohn an eine andere Kultur zu „verlieren“. Für meine Eltern war damit verbunden, dass ich dann nie mehr in der Türkei leben würde. Selbstverständlich hat sich die Meinung später geändert und dies alles hat keine Rolle mehr gespielt.

 

Wie blickst Du heute auf die „Gastarbeiter’innen“?

Ich habe sehr großen Respekt vor meinen Eltern und vor allen, die damals und heute in der Fremde ein neues Leben begonnen haben. Natürlich haben sie in der Regel persönlich sehr davon profitiert. Gleichzeitig mussten sie auf vieles verzichten und haben im Grunde ein Leben in der Fremde verbracht. Sie alle haben sehr zum Wohlstand in Deutschland beigetragen. Ich persönlich habe mich immer gegen Ausgrenzung eingesetzt. 

Wenn ich zurückschaue kann ich mich aber auch an viele Gespräche mit Migrantinnen und Migranten erinnern, in denen ich immer wieder betont habe, dass Integration auch keine Einbahnstraße ist. Für ein gutes Miteinander müssen sich beide Seiten bemühen und versuchen sich zu verstehen. Man sieht ja an den Biographien, dass man praktisch ein ganz anderes Leben führt, obwohl man sich im selben Land befindet. Das prägt die Menschen.