

Lamija (Name geändert)
Bosnien
Mein Name ist Lamija und ich bin 1993 in Hanau geboren und aufgewachsen. Meine Familie stammt aus Bosnien und ist vor dem Krieg dort geflohen.
Wie ist Deine Familie nach Deutschland gekommen?
Mein Vater hat in den 90er Jahren in einer slowenischen Baufirma gearbeitet. Von dieser Firma wurde er für einen Auftrag nach Deutschland geschickt. Was er bei der Abfahrt des Zuges noch nicht wusste, war, dass es der letzte Zug war, der vor dem Ausbrechen des Krieges seine Heimatstadt verlassen hat. Er blieb in Deutschland, meine Mutter konnte wenig später mit meinen Geschwistern, meinen Großeltern und einigen Verwandten ebenfalls nach Deutschland kommen. Ich kam etwa ein Jahr später zur Welt.
Wo und wie habt ihr gewohnt?
Anfangs durfte mein Vater nicht bei uns wohnen. Er hatte eine Wohnung in Offenbach, wir wohnten zu viert in einem Zimmer in der Hessen-Homburg-Kaserne in Hanau. Nachdem mein Vater zu uns gezogen war, wurde es noch enger und wir haben lange nach einer Wohnung gesucht. Die fanden wir in der Nähe des Hauptbahnhofs und sind später noch einmal umgezogen. Meine Eltern leben heute noch in Hanau.
Wie war Deine Kindheit?
Ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Geschwister wurden zunächst in der Kaserne unterrichtet und haben dann die Regelschule besucht. Mein Vater arbeitete auf dem Bau, meine Mutter als Reinigungskraft. Meine Schulzeit war eher unspektakulär.
Gleichzeitig habe ich immer die Anspannung meiner Eltern gespürt. Unser Aufenthaltsstatus war lange Zeit nicht gesichert und wir mussten immer wieder bei der Ausländerbehörde unsere Aufenthaltserlaubnis verlängern. Wir bekamen immer nur eine Duldung für mal 3, mal 6 Monate. Das hat dazu geführt, dass meine Eltern immer nur befristete Arbeitsstellen bekommen haben. Diese Unsicherheit hat mir oft Angst gemacht.
Sprechen Deine Eltern Deutsch?
Meine Mutter spricht ganz gut Deutsch. Sie hat sich immer dafür interessiert und versucht, es selbst zu lernen. Sie hatte auch immer Jobs, bei denen sie sprechen musste. Meinem Vater fiel es schwerer die Sprache zu lernen. Er hat immer gearbeitet und hatte oft Kollegen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, die die gleiche Sprache sprachen, wie er.
Als wir Kinder waren, mussten meine Geschwister und später auch ich bei Briefen von Behörden übersetzen und helfen. Manchmal bitten sie uns auch heute noch um Hilfe, obwohl sie es eigentlich selbst können.
Wie hast Du das empfunden?
Manchmal hat es mich sehr genervt. Vor allem als Jugendliche hatte ich keine Lust dazu, weil ich aufgrund meines Alters selbst vieles nicht verstanden habe. Ich hatte aber das Glück, dass meine älteren Geschwister sehr schnell Deutsch gelernt und vieles übernommen haben.
Heute spreche ich beide Sprachen gleich gut. Mit meinen Eltern spreche ich ausschließlich bosnisch. Die Familie meines Mannes ist ebenfalls aus Bosnien geflohen und er ist in Norwegen aufgewachsen. Als er nach Deutschland kam, haben wir zunächst mehr Deutsch miteinander gesprochen, damit er es lernt. Heute sprechen wir gemischt.
Wie war die Schule für Dich?
Ich hatte viel Hilfe von meinen Geschwistern und in Mathe auch von meiner Mutter. Für meine Eltern war ein guter Schulabschluss selbstverständlich und sie haben großen Wert darauf gelegt, dass wir eine gute Ausbildung bekommen. Allerdings waren sie durch unseren unsicheren Aufenthaltsstatus und die Organisation des Alltags oft sehr belastet, so dass sie nicht immer die Energie hatten, sich um unsere schulischen Dinge zu kümmern. Sie haben beide immer viel gearbeitet.
Hat Dich das geprägt?
Ja, als ich nach der Mittleren Reife eine Ausbildung begonnen habe, war das für uns alle nicht das Richtige und meine Geschwister haben mich sofort unterstützt, wieder in die Schule zu gehen und Abitur zu machen. Über ein Studium der Germanistik und Politikwissenschaft, eine Stelle im Personalmarketing und eine Zeit der Arbeitslosigkeit während der Corona-Pandemie kam ich als Quereinsteigerin zur Ausbildung zur Erzieherin. Damit fühle ich mich sehr wohl und arbeite gerne in dem Beruf.
Wo bist Du zu Hause?
Mittlerweile bin ich in Deutschland zu Hause. Als Kind habe ich mich, genau wie meine gesamte Familie, als Bosnierin gefühlt. Wir haben jeden Urlaub dort verbracht und es war immer schön, dorthin zu kommen. Ferien, die Familie, Freiheit, Entspannung – das fühlte an wie zu Hause zu sein.
Als Jugendliche fühlte ich mich sehr entwurzelt, denn ich verlor den Bezug zu Bosnien. Ich entfremdete mich immer mehr, aber auch in Deutschland gehörte ich nicht wirklich dazu. Immer war ich „die Deutsche“ (in Bosnien) oder „die Bosnierin“ (in Deutschland). Meine Ferien verbrachte ich immer öfter in Deutschland, bei meiner Tante in Schweden oder anderswo.
Wirklich angekommen bin ich hier erst, seit ich eine eigene Wohnung habe, die ich mir selbst eingerichtet habe. Inzwischen sehe ich das Gute in beiden Ländern und habe an beiden Ländern Kritik. Aber meine Welt ist jetzt hier.
Vor etwa zehn Jahren habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Dafür musste ich meine bosnische abgeben, was mir unendlich weh getan hat, denn ich musste unterschreiben, dass ich damit nicht mehr zu diesem Land gehöre.
Wie siehst Du Deutschland heute?
Es ist meine Heimat, auch wenn mich die derzeitige politische Lage sehr beunruhigt und mir manchmal Angst macht. Wenn hier Pläne zur Abschottung gegen Flüchtlinge gemacht werden oder es um die Abschiebungen geht, denke ich oft an die Situation meiner Familie. Sie konnten nur in Sicherheit leben, weil Deutschland ihnen damals die Chance gegeben hat, hierher zu kommen. Den Krieg in Bosnien hätten wir sicher nicht alle überlebt. Dafür bin ich Deutschland unendlich dankbar. Aber wenn sie meine Mutter und meine Geschwister damals nicht aufgenommen hätten, gäbe es heute eine Altenpflegerin, zwei Lehrer*innen und eine Erzieherin weniger. Ich will damit sagen, dass wir und viele andere Migrant*innen auch wertvolle Arbeitskräfte für dieses Land sind und daher als Teil dieses Landes ohne Wenn und Aber angenommen werden wollen.
Mich erschreckt, dass bestimmte Äußerungen über und gegenüber Migrant*innen wieder salonfähig geworden sind und selbst Politiker*innen Dinge sagen, ohne sie zu reflektieren. Ich höre dann oft: „Ihr seid damit ja nicht gemeint!“. Aber es wird nicht differenziert, wer denn genau gemeint ist. Wir sind auch „Geflüchtete“ und „Ausländer*innen“.
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich die Vernunft und die Menschlichkeit durchsetzen und wir alle friedlich zusammenleben können.