Flagge Marokko
Portrait Samira

Samira

Marokko

 

Mein Name ist Samira. Ich bin in Frankfurt geboren und lebe seit meinem 2. Lebensjahr in Maintal. Ich bin die Älteste von fünf Geschwistern. Meine Eltern stammen aus Marokko. 

 

Wie kam Deine Familie nach Maintal?

Meine Eltern kamen beide als Kinder bzw. Jugendliche nach Deutschland. Mein Großvater mütterlicherseits kam als klassischer Gastarbeiter in den 1960er Jahren nach Deutschland und holte später seine Familie nach. Meine Mutter war damals acht Jahre alt.

Mein Großvater väterlicherseits ging zum Arbeiten in die Niederlande und holte ebenfalls seine Familie nach. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre alt und hätte eigentlich nicht mehr mitkommen dürfen. Mein Großvater gab jedoch ein falsches Geburtsjahr für ihn an und machte ihn damit drei Jahre jünger. Als junger Mann kam mein Vater dann mit anderen jungen Marokkanern nach Frankfurt um hier zu arbeiten. 

Mein Vater hat sein Alter übrigens nie korrigieren lassen und ging deshalb auch erst drei Jahre später in Rente. Er betrachtete das als eine Art Wiedergutmachung für die damalige Falschangabe.

 

Wie bist Du aufgewachsen?

Wir lebten zunächst zu siebt in einer 3-Zimmer-Wohnung. 

Mein Vater arbeitete sehr viel, zeitweise hatte er drei Jobs gleichzeitig, um unsere Familie zu ernähren. Er war Lagerist in Frankfurt, fuhr abends und am Wochenende Taxi und half zusätzlich in einem Umzugsunternehmen aus. 

Meine Mutter absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zur Arzthelferin, kümmerte sich während meiner Kindheit jedoch ausschließlich um die Familie. Da mein Vater fast immer arbeitete, lag die gesamte Familienarbeit bei ihr.

Wir wohnten in einem Haus, in dem Familien aus vielen verschiedenen Ländern lebten. Für uns war es ganz selbstverständlich, dass zu Hause eine andere Sprache gesprochen wurde, als auf der Straße oder in der Kita. Dieses „Anderssein“ hatte etwas Verbindendes - damit konnten wir uns identifizieren. 

Als meine Eltern Anfang der 1990er Jahre ein Haus kaufen wollten, versuchten meine Großeltern, das zu verhindern. Sie hatten Angst, dass es negativ aufgenommen würde, wenn sich "Ausländer“ dauerhaft in Deutschland niederlassen, und befürchteten, dass wir Opfer eines Anschlags werden könnten. 

 

Wie war das bei Euch mit der Sprache?

Meine Eltern sprechen beide fließend Deutsch – daher waren Übersetzungen bei uns nie ein Thema. 

Zu Hause sprachen wir überwiegend Marokkanisch. Außerdem verwendeten meine Eltern auch den Dialekt der marokkanischen Berber, den mein Vater als Muttersprache spricht – vor allem, wenn wir sie nicht verstehen sollten. Heute verstehen wir ihn, sprechen ihn jedoch nicht aktiv. Je älter wir wurden, desto mehr unterhielten wir uns untereinander auf Deutsch. 

Heute sprechen wir alle Sprachen gemischt - abhängig vom Thema. Wenn ich zum Beispiel von der Arbeit erzähle, spreche ich Deutsch; wenn es um die Familie geht, Arabisch. 

Mit meinen Kindern spreche ich ausschließlich Deutsch, mein Mann hingegen unsere Muttersprache. Mir ist wichtig, dass sie neben Deutsch auch Arabisch verstehen, aber ich fühle mich im Deutschen einfach mehr zu Hause – es ist meine Denksprache. Daher nutze ich sie im Kontakt mit meinen Kindern. 

 

Wie hast Du Deine Kindheit und Jugend erlebt?

Ich lebte gefühlt in zwei Welten. Es gab ein „Innen“ und ein „Draußen“. Zu Hause folgten wir marokkanischen Traditionen: mit entsprechender Kleidung, anderem Essen, typischer Musik und bestimmten Verhaltensweisen.  „Draußen““ war alles anders. 

Als Kind verstand ich oft nicht, warum das so war, nahm es aber als gegeben hin und passte mich an. Manches bezog ich auch auf mich selbst. Zum Beispiel fragte ich mich lange, warum alle Kinder in der Schulpause Kakao bekamen – nur ich nicht. Erst viel später wurde mir klar, dass ich nicht ausgegrenzt wurde, sondern dass meine Eltern sich darum hätten kümmern müssen. Sie kannten das Prinzip schlicht nicht. 

Auch wenn ich nie ganz verstanden habe, warum es diese zwei Welten gab, habe ich es nie hinterfragt. Ich passte mich einfach an und lebte zwei verschiedene Leben parallel. 

Als Jugendliche begann ich, alles verstehen zu wollen, und lernte, mich in beiden Kulturen selbstverständlich zu bewegen. Heute frage ich nach, warum etwas auf eine bestimmte Weise geschieht, und entscheide unabhängig, was sich für mich richtig anfühlt. Und so handele ich dann auch. 

 

Wie erklärst Du Dir die Entstehung dieser beiden Welten?

Auch wenn meine Eltern beide in Deutschland aufgewachsen sind, hielten sie doch immer an der marokkanischen Tradition und Kultur fest. Sie wollten uns ihre Werte und Bräuche weitergeben. 

Meine Eltern übten jedoch keinen Zwang auf uns aus. Meine Eltern sind gläubige Muslime, haben aber zum Beispiel uns nie gezwungen oder erwartet das Kopftuch zu tragen, weder von mir noch von meiner Schwester. Einzig der Besuch der Koranschule am Sonntag war Pflicht. Als Kinder wollten wir nicht hingehen - heute sind wir froh, dass unser Vater uns dazu bewegt hat, da ich heute arabisch lesen und schreiben kann.

 

Wo bist Du zu Hause?

In Deutschland. Aber wenn ich zu lange nicht in Marokko war, vermisse ich das Essen, die Gerüche, die Musik in den Gassen, die andere Art von Humor und das Gefühl, in der Kultur zu Hause zu sein. In Deutschland ist mein zu Hause - Marokko meine Heimat. 

Wenn wir im Sommer sechs bis acht Wochen in Marokko waren, war alles einfach. Endlich stimmten Innen- und Außenwelt überein. Ich kannte mich aus, verstand alles und fühlte mich sicher im Umgang. 

Heute fühle ich mich in Deutschland manchmal sicherer - vor allem bei Behördengängen und bestimmten Abläufen. Ich weiß, wie meine Mitmenschen ticken. Wenn ich dieses Wissen in Marokko anwende, funktioniert das nicht immer. Wenn mir z.B. ein bekannter Taxifahrer sagt, er habe keine Zeit, mich am Flughafen abzuholen, akzeptiere ich das und suche jemand anderen. Meine Mutter hingegen redet so lange mit ihm, bis er Zeit hat. 

 

Hast Du auch Rassismus erlebt?

Ja, wenn auch nur in einzelnen Situationen. Leider gab es auch in der Schule einen Vorfall. Das war einer den wenigen Momente, an die ich mich erinnere, in denen meine Mutter in der Schule war. 

Trotzdem fühle ich mich in kulturell gemischten Gruppen wohler. Das hat nichts mit negativen Erfahrungen zu tun – es ist mir einfach vertrauter und ich fühle mich anders zugehörig, denn mit einer anderen Kultur aufgewachsen zu sein schafft ein Gefühl von Verbundenheit.

Natürlich kenne ich auch unbedachte Bemerkungen oder dumme Sprüche und ich weiß, dass das viele Menschen sehr verletzt. Mir geht es in der Regel nicht so. 

 

Wie lebst Du heute mit Deinen beiden Welten?

Das ist immer wieder ein Stück Arbeit. 

Ich lebe sehr situationsabhängig in beiden Welten. Wenn mir danach ist - etwa aus Respekt vor meiner Familie oder bei religiösen Festen - trage ich traditionelle Kleidung wie eine Jelaba und ein Kopftuch und fühle mich darin wohl. Oder eben eine Bluse und Jeans, je nach dem was mir passend erscheint.

Meinen Kindern habe ich früh beigebracht, Dinge zu hinterfragen. Auch ich selbst entscheide in jeder Situation neu, wie ich reagieren möchte. 

Als Kind habe ich es nie als Bereicherung erlebt. Ich wollte nicht auffallen und am liebsten so sein, wie alle anderen. Heute bin ich dankbar für den selbstverständlichen Umgang mit zwei Kulturen und zwei Sprachen.